Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 20 (2023), 1

Titel der Ausgabe 
Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 20 (2023), 1
Weiterer Titel 
Ausweisen – Rückführen – Abschieben

Erschienen
Göttingen 2023: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
180 S.
Preis
Jahresbezug € 82,– (D); Einzelheft € 32,– (D)

 

Kontakt

Jan-Holger Kirsch
Institution
Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung
Abteilung
Abteilung III: Zeitgeschichte der Medien- und Informationsgesellschaft
Land
Deutschland
PLZ
14467
Ort
Potsdam
Straße
Am Neuen Markt 1
c/o
Dr. Jan-Holger Kirsch Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung Am Neuen Markt 1 D-14467 Potsdam Tel.: +49 (0)331/28991-18 E-Mail: kirsch@zzf-potsdam.de
Von
Jan-Holger Kirsch, Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam

Liebe Leserinnen und Leser,

das neue Heft der „Zeithistorischen Forschungen“, herausgegeben von Jannis Panagiotidis und Florian Wagner, bietet geschichts- und sozialwissenschaftliche Forschungsergebnisse sowie aktuelle Diskussionsimpulse zum Leitthema „Ausweisen – Rückführen – Abschieben“ (https://zeithistorische-forschungen.de/1-2023).

Während die Migrationsgeschichte in den vergangenen zwei bis drei Jahrzehnten generell eine verstärkte wissenschaftliche Aufmerksamkeit gefunden hat, ist die erzwungene Entfernung von Migrant:innen aus bestimmten Nationalstaaten dabei noch kaum zum Gegenstand der historischen Forschung geworden. Das Themenheft beschäftigt sich mit Ausweisungs-, Rückführungs- und Abschiebungspraktiken, die gerade in liberalen Demokratien einer rechtlichen Legitimation bedürfen. Während sich das nationale und internationale Recht nach 1945 eher zu Gunsten von Arbeitsmigrant:innen und Geflüchteten zu entwickeln schien, verstetigten sich gleichzeitig Praktiken und Routinen der Rückführung. Die Voraussetzung dafür war die Produktion von „Rückführbarkeit“, welche erzwungener oder (angeblich) freiwilliger Rückkehr den Weg bereitete. Die Autor:innen des Themenhefts fragen nach diskursiven, rechtlichen und praxeologischen Bedingungen des Ausweisens, Rückführens und Abschiebens in transnationaler, vergleichender und migrantischer Sicht. Unser besonderes Augenmerk gilt Deutschland, das sich lange der Einsicht verweigerte, ein Einwanderungsland zu sein. Rückführungen wurden daher zum Mittel, Migration umzukehren und den Zustand als vermeintliches „Nichteinwanderungsland“ wiederherzustellen. Erzwungene Abschiebungen wurden hier zudem vor dem historischen Hintergrund der Massendeportationen des Nationalsozialismus verhandelt und kritisiert. Darüber hinaus rücken die Beiträge des Themenhefts auch die postkolonialen und globalen Verflechtungen von Migration nach und Abschiebungen aus Deutschland in den Fokus.

In der aktuellen politischen Diskussion hat das Thema „Abschiebungen“ erkennbar an Brisanz und Relevanz gewonnen. Oft fehlt es dabei jedoch an genaueren Betrachtungen der historischen Kontinuitäten und Diskontinuitäten. Viele der heute geäußerten Argumente und Vorannahmen wurden ganz ähnlich schon in früheren Debatten vertreten – was sie nicht unbedingt richtiger macht. Sowohl die politischen Appelle für mehr Abschiebungen als auch das zivilgesellschaftliche Engagement gegen Abschiebungen haben inzwischen eine eigene, eng miteinander verbundene Geschichte, die man genauer kennen sollte, um in den Kontroversen der Gegenwart fundierter urteilen zu können.

In den Fallstudien etwa zum bundesdeutschen Umgang mit People of Color und ihren Aufenthaltsrechten oder zu den Konflikten um Asyl und Zurückweisungen in der Transitzone am Frankfurter Flughafen wird deutlich: Lokale Konstellationen und die jeweils beteiligten Akteursgruppen (wie kommunale Behörden, Wohlfahrtsverbände oder Hilfsinitiativen) waren für die Abschiebepraxis häufig ebenso entscheidend wie die nationale Ebene der „Ausländerpolitik“. Zudem zeigt sich, dass Rechtsnormen und Rechtspraktiken keineswegs immer eindeutig, „neutral“ und stabil waren. Vielmehr folgten sie politischen Konjunkturen, kulturellen Stereotypen und sozialen Handlungsmustern im Umgang mit „Anderen“. Die Überlagerung von nationalem, europäischem und internationalem Recht sorgt dabei für eine besondere Komplexität des Themas, etwa in der Frage des Bleiberechts und des menschenrechtlich fundierten Schutzes. Schließlich ist es unbedingt wichtig, neben politischen und rechtlichen Rahmenbedingungen auch die migrantischen Erfahrungen als Teil der deutschen und europäischen Gesellschaftsgeschichte stärker als bisher sicht- und hörbar zu machen.

Unabhängig vom Leitthema sei erwähnt, dass die Druckausgabe der „Zeithistorischen Forschungen“ ab diesem Heft nun auch Farbabbildungen im Innenteil bietet. Dies ermöglicht es, verschiedene Bildquellen wie Plakate, Zeitschriftencover, Farbfotos etc. angemessen wiederzugeben und sie der historischen Interpretation besser zugänglich zu machen. Davon profitiert im vorliegenden Heft bereits der „Extra“-Essay von Felix Axster, der einem sprachlich und visuell populären Deutungsschema nachgeht: „Die ‚Wende‘ als Form der Kolonisierung?“ (https://zeithistorische-forschungen.de/1-2023/6112).

Und noch ein Hinweis in eigener Sache: Raphael Rössel, Mitautor und Mitherausgeber unseres Themenhefts „Disability History“ (https://zeithistorische-forschungen.de/2-2022), hat für seinen Beitrag zur Rubrik „Neu gesehen“ (https://zeithistorische-forschungen.de/2-2022/6065) am 28. November 2023 den diesjährigen Zeitgeschichte-digital-Preis in der Kategorie „Wissenschaft“ erhalten (siehe https://zzf-potsdam.de/de/news/lena-herenz-raphael-rossel-erhielten-den-zeitgeschichte-digital-preis-2023). Herzlichen Glückwunsch!

Beitragsideen und Manuskript-Einsendungen zum gesamten Spektrum der Zeitgeschichte sind für künftige Hefte jederzeit willkommen. Bitte beachten Sie die näheren Hinweise unter https://zeithistorische-forschungen.de/beitragen

Inhaltsverzeichnis

Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History

Jahrgang/Volume 20 (2023)

Heft 1: Ausweisen – Rückführen – Abschieben
Issue 1: Expulsion – Repatriation – Deportation
https://zeithistorische-forschungen.de/1-2023

Herausgeber dieses Hefts/Editors of this issue:
Jannis Panagiotidis/Florian Wagner

Jannis Panagiotidis/Florian Wagner
Migration umkehren?
Ausweisungen und Abschiebungen im liberalen Deutschland
(Druckausgabe: S. 7-28)
https://zeithistorische-forschungen.de/1-2023/6099

Aufsätze/Articles

Julia Wambach/Jasper Theodor Kauth
Abgeschoben aus dem eigenen Land.
Innerdeutsche Ausweisungen in der Weimarer Republik
(Druckausgabe: S. 29-50)
https://zeithistorische-forschungen.de/1-2023/6102

Florian Wagner
Ausweisungsgrund: „Außereuropäisch“.
People of Color und die Entstehung des bundesdeutschen Abschieberegimes
(Druckausgabe: S. 51-84)
https://zeithistorische-forschungen.de/1-2023/6103

Carolin Liebisch-Gümüş
Im Drehkreuz.
Konflikte um Asyl und Zurückweisungen am Frankfurter Flughafen (1980–1995)
(Druckausgabe: S. 85-112)
https://zeithistorische-forschungen.de/1-2023/6105

Inken Bartels/Simon Sperling
Erzwungene Freiwilligkeit.
Zur Produktion von Returnability im europäischen Grenzregime des 21. Jahrhunderts
(Druckausgabe: S. 113-140)
https://zeithistorische-forschungen.de/1-2023/6107

Essay

Jannis Panagiotidis
Ist Bleiberecht Menschenrecht?
Abschiebungen, Menschenrechte und Freizügigkeit in historischer Perspektive
(Druckausgabe: S. 141-155)
https://zeithistorische-forschungen.de/1-2023/6110

Besprechungen/Reviews

Rezensionen bei „H-Soz-Kult/Zeitgeschichte“
(Druckausgabe: S. 156-159)
https://zeithistorische-forschungen.de/links/6114

Neu bei „Docupedia-Zeitgeschichte“, „Visual History“ und „zeitgeschichte | online“
(Druckausgabe: S. 160)
https://zeithistorische-forschungen.de/neu/6115

Extra: Essay

Felix Axster
Die „Wende“ als Form der Kolonisierung?
Zur Genese und Aktualität eines populären Deutungsschemas
(Druckausgabe: S. 161-180)
https://zeithistorische-forschungen.de/1-2023/6112

Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History ist Teil von Zeitgeschichte digital, dem Online-Publikationsverbund des Leibniz-Zentrums für Zeithistorische Forschung Potsdam (https://zeitgeschichte-digital.de).

Aktueller Beitrag von Docupedia-Zeitgeschichte:
Christoph Lorke
Armut, Version: 1.0 (2.11.2023)
https://docupedia.de/zg/lorke_armut_v1_de_2023

Aktueller Beitrag von Visual History:
Annette Schuhmann
Der Band „Evelyn Richter“ ist ein Glücksfall.
Eine Rezension anlässlich der Ausstellung im Museum der bildenden Künste in Leipzig (23.11.2023)
https://visual-history.de/2023/11/23/schuhmann-der-band-evelyn-richter-ist-ein-gluecksfall/

Aktueller Beitrag von zeitgeschichte | online:
Florian Peters
Die Ukraine, die Ambivalenzen des Nationalismus und wir (27.11.2023)
https://zeitgeschichte-online.de/themen/die-ukraine-die-ambivalenzen-des-nationalismus-und-wir

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